SELBSTPORTRAITS 1987 – 2013
Sieben Selbstportraits mit Kopfbedeckung
Baryt-Abzüge, je 100 x 80 cm
Das Selbstportrait nimmt im Werk von Sebastian Kusenberg eine wichtige Rolle ein. Mit Hilfe von Accessoires, die allesamt aus dem Haushalt der 2004 verstorbenen Großtante Margaret stammen, inszeniert Kusenberg kulturelle Identitäten, die Ausdruck und Thema unserer modernen Zivilisation sind: Dabei liegen Ernst und Ironie nahe beieinander. Die Gegenstände, die Kusenberg für seine Fotos auswählt, hat er durch kreative Zweckentfremdung auf ihre Tauglichkeit als Verkleidung geprüft. So besteht die „Burka“ aus geklöppelter Meterware, die früher zur Verzierung von Wäscheschrank- und Gardinenbrettern diente. Der Pelzmuff verhilft Kusenberg zur Verwandlung in einen entfremdeten Karl Marx; das tapfere Schneiderlein sitzt nachdenklich hinter der Schaufensterauslage eines Hutgeschäftes, als ob er sich überlegen würde, welche Identität er als nächste ausprobieren sollte. Der Frisierumhang lässt an einen liebenswürdigen Dorftrottel denken, während das Küchensieb Gewalt in Form eines Kampfbereiten Polizisten gegen die legendäre Autonomen-Bewegung ins Visier holt. Der Fernöstliche Kusenberg, nackt und mit Native-Strohkappe auf dem Kopf, erprobt die Selbstverteidigung mit einem Stuhl als Schutzschild. Schließlich verbeugt sich der enigmatische Zauberer am Ende der Vorstellung.
Die Zurschaustellung der Requisiten einer verstorbenen Verwandten gleicht auch einer Anleitung zum Umgang mit fremden Sachen, von denen man nur raten kann, wozu sie verwendet wurden. Es ist als ob das Verschwinden von Großtante Margaret und der Haushalt, den diese hinterlässt, Anlass wäre, um über unser Leben sowie unser Handeln, den Umgang mit unserer Rolle in der Gesellschaft, existentiell nachzudenken. Das Haus der Großtante stand in der Malvenstraße, in der Nähe des Botanischen Gartens in Berlin. Die Fotos greifen auch diese familiäre Vergangenheit assoziativ auf. Einige der Inszenierungen sind mit rankendem, Herbst-Blattwerk dekoriert, was die Künstlichkeit aber auch Leichtigkeit der Aufnahme unterstreicht. Es ist auch hier ein verspielter Verweis auf die altmodische Atmosphäre, wie sie der Künstler schon als Kind bei seiner Verwandten empfunden hat. Kusenberg schreibt: „Meine Großtante Margaret habe ich als kleiner junge einige male gesehen – damals war sie mir nicht sehr nah – sie war Vegetarierin, eher streng, etwas asketisch und förmlich.“ Als die Großtante schon sehr alt war, hat Kusenberg sie häufiger besucht und ein engeres Verhältnis zu ihr entwickelt. Sie war über 100 Jahre alt, als sie verstarb.
Dr. Helen Adkins, 2009
INSIDE ME 2012 – 2014
Im Spalt der Erinnerung oder
Sisyphos im Grenzgebiet
Auf einem Speicher kehrt ein Mann Staub und Schutt, Überreste des Verfalls. Ob zusammen oder auseinander bleibt dahingestellt. Aber mit sichtbar körperlichem Einsatz und mit einer Egge. Deren grobe, große Zinken dienen eigentlich der Lockerung von Erde. Zur Schmutzbeseitigung sind sie weniger effektiv. Immerhin lässt das archaische Gerät auf ein bäuerliches Umfeld schließen. Nur, welcher Bauer würde seinen Schuppen mit einer Egge kehren? Und so inbrünstig. Wer also ist dieser Mann und wozu kehrt er? Soll die Vergangenheit ausgemistet werden?
Sebastian Kusenberg ergründet das Absurde in einer Gegend, weit entfernt von den Straßen. Ihre topographische Realität bleibt für den Betrachter nur vage erahnbar.. Außenansichten sind rar., das Wo spielt in der Serie PICTURES INSIDE ME keine Rolle. So ist also der Fremde – der sich in ungemachte Betten legt, Heuschober ausspioniert oder eben Speicher eggt -, Sebastian Kusenberg selbst. Er arbeitet allein. Mit einer Plattenkamera und einem altmodischen Luftdruckfernauslöser. Das Bild entsteht während einer relativ langen Belichtungszeit. In dieser einen Minute passiert etwas. Ereignet sich die Inszenierung des Zufalls. Das Selbst und der Andere huschen gleich einem Zauberbesen durch diese Fotografien.
Die Personalunion von Fotograf und Modell sowie die Simultaneität von Schärfentiefe und bewusster Unschärfe generieren fruchtbare Polaritäten. Ebenso wie seine ganz eigene Methode der Selbst-Inszenierung. Denn das Künstler-Ich ist immer soweit zurückgenommen, dass aus der Abstraktion der eigenen Figur eine offene Erzählstruktur und Resonanzräume der Erinnerung entstehen. Projektionsflächen, deren subtiler Humor nicht als vordergründige Idee kurz aufglimmt, sondern vielmehr aus archetypischen Schichten aufscheint.
Die Serie PICTURES INSIDE ME unternimmt die Reise in eine geheimnisvolle Welt, die Kusenberg wie eine Plattform ausbreitet, auf der wir die Geschichten im Moment des Betrachtens erinnern. So, wenn die Figur durch den Mauerspalt in eine Wohn- oder Schlafstube lugt. Die Tapete ist verblasst, die Struktur des Geästs vor den Fenstern setzt sich in den feinen Rissen im Inneren fort. Beobachten wir hier einen Einbrecher, einen harmlosen Voyeur oder den Besitzer, der schaut, was vom Hause übrigblieb.
In der listigen Polarität stellt PICTURES INSIDE ME die Fragen um Selbstzweifel und Selbstbewusstsein in den Raum. Aber auch nach der Condition humaine des Menschen schlechthin. Camus’ Fazit lautet schließlich: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Auszüge aus einem Text von Michaela Nolte, 2013
NATIVE 2000
Barytprints 125 x 96 cm
in Vitrinenrahmen 136 x 105 cm
Der wilde Doppelgänger
Die Bezeichnung „edler Eingeborener“ ist doppeldeutig. Der zivilisierte Mensch spricht von Natur, um eine Welt von exotischer, jungfräulicher, ursprünglicher Beschaffenheit zu erfinden. Er oder sie benötigt eine grüne Bühne, um der Tragik jener Wesen einen angemessenen Rahmen zu verleihen, die ohne natürliche Nische ein chaotisches Leben führen.
Um sich als Bestandteil des Tierreiches fühlen zu können, müssen Menschen ein natürliches Umfeld künstlich erfinden. Jedoch ist dies nur ein visueller Effekt; ein listiges Falten des Raumes, welches es ihnen für einen Augenblick ermöglicht, sich als Eingeborener zu fühlen. Der wahre Eingeborene taucht nur dort auf, wo die Zivilisation Natur künstlich ordnet. Zwischen den gehorsamen Bäumen, aufrecht und in Formation einer Armee, erhaschen wir einen flüchtigen Blick auf einen Menschen, der sich danach sehnt, ein wildes Tier zu verkörpern.
Die Schwingungen der Luft ermöglichen uns, die Gegenwart eines Eingeborenen wahrzunehmen, der sichtlich verwundert ist über eine Reihe pflanzlicher Wesen, die ihn bereitwilliger akzeptieren als Menschen. Jedoch kennen wir sein Geheimnis: dieser Eingeborene, gerade noch von den Bäumen versteckt ist der Urheber unserer Fotografie. Vor einigen Sekunden befand er sich noch hinter jenem optischen Gerat, das dieses ganze Drama entfesselte.
Der Doppelgänger des deutschen Fotografen Sebastian Kusenberg fordert die Tradition dieser geläuterten Kultur zurück. Er verwandelt sich in den ungezähmten Papageno, den Vogelmann Mozarts, der unter grotesker Anstrengung einen Baum zu erklimmen versucht, um Licht and Weisheit zu erlangen. Allerdings ist dies nur zivilisierten Menschen vorbehalten. Später verkörpert der Fotograf flüchtig die Person des Kasper Hauser, jenes Ungezähmten, der nach seiner kürzlichen Befreiung aus einer außergewöhnlichen Gefangenschaft eine aus dem Wald in die Stadt führende Straße entlang wandert, nur um dort seinen Tod zu finden.
Wenn zivilisierte Menschen Eingeborene verkörpern, wird ihre Individualität ausgelöscht, und sie werden eins mit Wasser, Wurzeln and Erde. Wie erschafft nun ein zivilisierter Mann einen Eingeborenen? Baltasar Gracian entwickelte schon vor Jahrhunderten die Formel hierfür: „Nichts gehört uns außer der Zeit, in der jene, die keinen Ort haben verweilen“.
Es genügte dem Fotografen, seine hungrige, ungeduldige Erfindung mit Zeit zu füttern: genug Zeit, damit die lange Belichtung seinen Bewegungen ermöglicht, ein primitives, geisterhaftes Geschöpf ins Leben zu rufen, das von den Träumen and Alpträumen der zivilisierten Gesellschaft genährt wird.
Roger Bartra in LUNA CORNEA, Mexico-City, Oktober 2001